Ägypten vor den Präsidentschaftswahlen: Der bloße Schein einer Wahl

Kommentar

Während der ägyptische Präsident al-Sisi seiner dritten Amtszeit entgegenblickt, ist das Land wirtschaftlich in einem desolaten Zustand und die Menschenrechtslage schlechter als je zuvor. Warum Europa seine Beziehungen zu Ägypten kritisch überprüfen sollte.

Plakat von Präsident Abdel Fattah Saeed Hussein Khalil el-Sisi , Präsident von Ägypten in Kairo

In Ägypten stehen im Dezember dieses Jahres Präsidentschaftswahlen an. Vom 1. bis zum 3. Dezember können im Ausland lebende Ägypter*innen ihre Stimme abgeben, vom 10. bis 12. Dezember die Wahlberechtigten unter den 110 Millionen Einwohner*innen des Landes. Doch das Wahlergebnis steht schon jetzt fest. Der aktuelle und zukünftige ägyptische Präsident heißt Abdelfattah al-Sisi. Die drei Gegenkandidaturen regierungsnaher Kandidaten sind nicht mehr als Makulatur.

Ursprünglich hatten mit Gameela Ismail, Ahmed al-Fadaly und Ahmed al-Tantawi auch drei Mitglieder des Civil Democratic Movements, einer linksliberalen Koalition von Oppositionsparteien, ihre Kandidatur angekündigt. Während al-Fadaly seine Kandidatur erst gar nicht offiziell einreichte und Ismail - die erste Frau, die sich je um das ägyptische Präsident*innenamt beworben hatte - ihre Kandidatur sehr rasch zurückzog, hielt al-Tantawi lange an seiner Kandidatur fest.

Doch nachdem 12 Familienmitglieder al-Tantawis sowie über 100 Mitglieder seines Wahlkampfteams festgenommen, Menschen durch Schlägertrupps des Regimes davon abgehalten wurden, seine Kandidatur durch ihre Unterschrift zu unterstützen und sein Handy mit Schadsoftware kompromittiert worden war, musste auch al-Tantawi seine Kandidatur im Oktober zurückziehen. Es war ihm nicht gelungen, die 25.000 für die offizielle Zulassung seiner Kandidatur benötigten Unterschriften zu sammeln.

Anfang November wurden al-Tantawi und der Leiter seiner Wahlkampagne wegen angeblicher „Verbreitung von Wahlunterlagen ohne offizielle Genehmigung“ angeklagt und müssen sich nun vor Gericht verantworten. Die Repression der Kampagne al-Tantawis überrascht nicht, denn Menschen- und Bürger*innenrechte gelten in Ägypten kaum noch. Auch wirtschaftlich steht das Land ausgesprochen schlecht da. Trotz alledem hält sich in Europa hartnäckig der Glaube an sein Regime als verlässlicher und stabiler Partner.

Viel Repression, wenig Menschenrechte

In den vergangenen zwei Jahren hat das ägyptische Regime mehrere Prozesse aufgesetzt, die eine Verbesserung der Menschenrechtssituation suggerieren und den Eindruck erwecken sollen, das Regime pflege verstärkt den Dialog mit der Zivilgesellschaft. Das für 2022 angekündigte „Jahr der Zivilgesellschaft“, die ein Jahr zuvor veröffentlichte nationale Menschenrechtsstrategie und der Nationale Dialog, der seit Mai 2023 stattfindet, sind jedoch nicht mehr wert als das Papier, auf denen sie verkündet wurden.  Die Räume für zivilgesellschaftliche und regimekritische Arbeit sind in den zehn Jahren seit der Machtergreifung al-Sisis immer weiter geschrumpft. Die Menschenrechtssituation im Land ist so prekär wie nie zuvor.

So hindert beispielsweise die 2019 verabschiedete Novellierung des NGO-Gesetz diese systematisch daran, sich zu registrieren, um finanzielle Förderung zu bemühen und sich öffentlich für Anliegen wie Menschenrechte oder Umweltschutz einzusetzen. Aufgrund des Vorwurfs, verbotene ausländische Finanzierung angenommen zu haben, sind zudem die Konten einiger der prominentesten ägyptischen Aktivist*innen  seit Jahren eingefroren und sie selbst mit einer Ausreisesperre belegt. Unter ihnen befindet sich auch Hossam Bahgat, Gründer der Egyptian Initiative for Personal Rights, einer der renommiertesten Menschenrechtsorganisationen Ägyptens.

Das systematische gewaltsame Verschwindenlassen und die Inhaftierung von Kritiker*innen des al-Sisi-Regimes ist endemisch. Im Namen des sogenannten Antiterrorkampfs wurden Tausende aus fadenscheinigen Gründen wie kritischen Beiträgen auf Social Media oder der Teilnahme an Protesten inhaftiert. Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass 65.000 bis 70.000 politische Gefangene in ägyptischen Gefängnissen inhaftiert sind. Dabei werden den Häftlingen oft grundlegende Rechte, wie der Zugang zu anwaltlicher Unterstützung, medizinische Versorgung oder der Besuch von Angehörigen verwehrt. Folter und sexualisierter Missbrauch sind ebenso an der Tagesordnung.

Der wohl bekannteste politische Gefangene Ägyptens ist Alaa Abdel Fattah. Er sitzt seit nunmehr über einem Jahrzehnt nahezu ohne Unterbrechung in Haft. Grund dafür ist sein Engagement für Demokratie und Menschenrechte. Während der internationalen Klimakonferenz (COP), die 2022 in Ägypten stattfand, erregte sein Schicksal große internationale Aufmerksamkeit. Unter den zivilgesellschaftlichen Teilnehmer*innen der COP entwickelte sich eine große Solidarität mit den politischen Gefangenen in Ägypten und insbesondere mit Alaa Abdel Fattah. Mehrere europäische – insbesondere die deutsche – sowie die US-amerikanische Regierung setzten sich gegenüber dem ägyptischen Regime für seine Freilassung ein. Seine Haftbedingungen verbesserten sich durch die starke internationale Kampagne, die wichtigste Forderung blieb jedoch unerfüllt: Ein Jahr nach dem Ende der COP sitzt Alaa Abdel Fattah noch immer im Gefängnis.

Die Wirtschaft steht auf tönernen Füßen

Bei seiner Machtergreifung hatte Präsident al-Sisi den Ägypter*innen neben Stabilität und Sicherheit auch wirtschaftliche Entwicklung versprochen. Aktuell steckt das Land jedoch in einer existenziellen wirtschaftlichen Krise. Insbesondere die Preise vieler Lebensmittel haben sich in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt, während das ägyptische Pfund die Hälfte seines Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren hat. Im September dieses Jahres lag die Inflationsrate bei 38 Prozent.  Als größter Weizenimporteur weltweit wurde das Land außerdem sehr hart von den steigenden Weizenpreisen auf dem Weltmarkt getroffen, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine auslöste.

Offiziell lebt inzwischen 30 Prozent der Bevölkerung in Armut, die Dunkelziffer dürfte bedeutend höher sein. Schon jetzt ist Ägypten der zweitgrößte Kreditnehmer des IWF – die Schulden belaufen sich auf 22 Milliarden US-Dollar. Nach Schätzungen der US-Investmentbank Morgan Stanley braucht das Land bis Juni 2024 weitere 24 Milliarden US-Dollar. Wichtigstes Kriterium für die Ausschüttung der nächsten Kredittranche ist eine Währungsreform, die das ägyptische Regime bisher abgelehnt hatte. Nach der Machtergreifung al-Sisis hatten die drei Golfmonarchien Saudi-Arabien, Kuwait und Vereinigte Arabische Emirate dem ägyptischen Regime finanziell unter die Arme gegriffen. Seit einiger Zeit zeigen sie sich allerdings sehr viel zurückhaltender. Bei einer Verschuldung von fast 93 Prozent des BIP steht das Land aber ohne baldige Zahlungen von außen vor dem Staatsbankrott.

Die Priorität al-Sisis liegt weniger in einer stabilen Haushaltslage als vielmehr in der Konsolidierung seiner Macht.  So flossen die Auslandsschulden in große Infrastruktur- und Prestigeprojekte, wie den Bau einer neuen Hauptstadt oder von 2000 Kilometern Hochgeschwindigkeitsbahnnetzwerk. Mit ihnen stärkte der ägyptische Machthaber den politischen und wirtschaftlichen Einfluss des Militärs und erkaufte sich so ihre Unterstützung. Gebaut werden die Trassen des Hochgeschwindigkeitsbahnnetzwerks von Siemens. Das deutsche Unternehmen ist auch mit der Lieferung der dafür benötigten Züge, sowie dem Bau von Depots beauftragt. Mit einem Auftragswert von 8,1 Milliarden Euro handelt es sich dabei um den größten Geschäftsabschluss der Unternehmensgeschichte von Siemens. Abgesichert wird er durch eine Exportkreditgarantie der Bundesrepublik Deutschlands – einer sogenannten Hermesbürgschaft. Zusammen mit vorherigen Exportkreditgarantien beläuft sich die Bürgschaft des Bundes damit auf 10 Milliarden Euro, für die er bei einer Zahlungsunfähigkeit Ägyptens einspringen müsste.

Ein verlässlicher Partner?

Was lässt Europa an dem Glauben festhalten, al-Sisi sei ein Stabilitätsgarant? Hier lobt Europa in erster Linie die Zusammenarbeit bei der Migrationskontrolle. Doch obwohl nahezu keine Boote direkt von Ägypten ablegten, waren 2022 Ägypter*innen die größte nationale Gruppe, die über Italien die Europäische Union erreichten. Seitdem das ägyptische Regime seine Seegrenze stark kontrolliert, ist die Migration von Ägypter*innen also nicht weniger geworden – die Migrationsroute hat sich nur nach Ostlibyen verlagert.
Migrant*innen, die vorwiegend aus den Nachbarländern Eritrea, Äthiopien und Sudan nach Ägypten kommen, sind der imminenten Gefahr willkürlicher Inhaftierungen und Abschiebungen ausgesetzt. Die Haftbedingungen sind dabei ebenso unmenschlich wie die für politische Gefangene. Bei Abschiebungen wird zudem regelmäßig der völkerrechtliche Grundsatz des Non-Refoulment-Prinzips verletzt. Er verbietet Abschiebungen von Personen, wenn davon auszugehen ist, dass ihnen im Zielland Folter oder Menschenrechtsverletzungen drohen.  Trotzdem strebt die Europäische Kommission aktuell ein neues Abkommen mit Ägypten an, welches wirtschaftliche Unterstützung an die Rücknahme von Migrant*innen aus Europa knüpft.

Darüber hinaus wird Ägypten als wichtiger Vermittler im Nahostkonflikt und, seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, auch als Gaslieferant und wichtiger Verbündeter des Globalen Nordens in multilateralen Institutionen gesehen. Derweil zeigt sich das Regime immer wieder wenig an guten diplomatischen Beziehungen interessiert. Deutlich wurde dies unter anderem, als der Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, Luise Amtsberg, Anfang 2023 nicht nach Ägypten einreisen durfte. Zwar blieb Ägypten eine offizielle Begründung schuldig, vermutlich war dies aber eine Reaktion darauf, dass sich die Bundesregierung während der COP im vergangenen Jahr für Menschenrechte besonders eingesetzt hatte.

Ein weiteres Beispiel für das bullyhafte Auftreten des ägyptischen Regimes war im Sommer dieses Jahres die Verhaftung Alaa Eladlys, einem seit 30 Jahren in Deutschland lebenden ägyptischen Staatsbürger. Offiziell wurde ihm die Verbreitung von Falschinformationen und die Mitgliedschaft in einer verbotenen Vereinigung vorgeworfen. Naheliegend ist jedoch, dass seine Verhaftung eine Vergeltung für die politische Aktivität und Kritik am ägyptischen Regime seiner Tochter Fagr war. Sie hat im Gegensatz zu ihrem Vater auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Nachricht ist dieselbe, die das Regime auch an im Land lebende Regimegegner*innen wie Ahmed al-Tantawi aussendet: Wir setzen euch auch über eure Angehörigen und Freund*innen unter Druck. Al-Sisi versucht so, selbst diejenigen zu kontrollieren und zu bestrafen, die sich außer Landes begeben haben.

Wessen Stabilität? Wessen Sicherheit?

Es ist Zeit für eine kritische Überprüfung der Beziehungen mit dem ägyptischen Regime: Geht die Kalkulation noch auf, dass in diesen zwar die eine oder andere Kröte zu schlucken ist, am Ende die Vorteile für Europa aber überwiegen? Der ägyptische Präsident nutzt die Auslandsfinanzen nicht zur Stabilisierung seines Staatshaushaltes oder zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit, sondern zur Konsolidierung seines Machtapparates. Vor dem Hintergrund der immer prekäreren wirtschaftlichen Situation, bei der die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft, wird jedoch immer fraglicher, wie stabil die Machtbasis ist. Zuletzt zeigte sich das während staatlich tolerierter und zum Teil sogar unterstützter pro-palästinensischer Demonstrationen, deren Teilnehmer*innen die Gelegenheit nutzten und sich mit einem Slogan aus der Revolution 2011 an die ägyptische Regierung richteten: „Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit“.

Schon jetzt wirft die Kooperation im Bereich des Migrationsmanagements Fragen auf. Doch im Falle eines wirtschaftlichen Kollapses des Landes ließe sich die „irreguläre Migration“ von Ägypter*innen, vor der die Angst in Europa weit verbreitet ist, kaum mehr verhindern. Insbesondere in der wirtschaftlichen Kooperation mit Ägypten und bei der Vergabe von Exportkreditgarantien muss sichergestellt werden, dass deren Gewinne im Sinne einer gesellschaftlichen Stabilisierung eingesetzt werden. Statt finanzielle Unterstützung an Migrationsmanagement zu knüpfen, täten die europäischen Länder also besser daran, die Achtung von Menschenrechten und gute Regierungsführung ins Zentrum aller ihrer Beziehungen mit Ägypten zu stellen.  
Nur so kann auf Dauer die Stabilität des Landes statt die des Regimes gesichert werden. Die deutschen Leitlinien für eine menschenrechtsbasierte, feministische Außenpolitik liefern dafür das politische Handwerkszeug. Jetzt gilt es, dieses auch anzuwenden.